Der Landesstreik brach aus in einer fehleranfälligen Abfolge von militärischen Entscheiden, politischen Fehleinschätzungen und einer Arbeiterbewegung, die sich seit Jahren übergangen fühlte. Zwischen dem 11. und 14. November 1918 kippte die Lage in der Schweiz innerhalb weniger Tage – und wurde zum grössten sozialen Konflikt der modernen Landesgeschichte.
Die vier entscheidenden Tage des Landesstreiks (11.–14. November 1918):
- 11.11.: Truppenverlegung nach Zürich; OAK ruft offiziell zum Streik auf
- 12.11.: Beginn des Generalstreiks mit rund 250'000 Beteiligten
- 13.11.: Stillstand in den Städten, Armee verstärkt Präsenz
- 14.11.: OAK beendet den Streik; Schüsse von Grenchen mit drei Toten
Damit sind genau diese vier Tage der Schlüssel, um zu verstehen, weshalb der Generalstreik überhaupt möglich wurde: die Truppenaufmärsche in Zürich, die Reaktion des Oltener Aktionskomitees, das Wirken von Robert Grimm, die Mobilisierung der Arbeiterunion und schliesslich der Moment, in dem Armee und Bevölkerung einander direkt gegenüberstanden.
Vor dem 11. November: Ein Land auf der Kante
Wenige Wochen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war die Schweiz wirtschaftlich ausgezehrt. Die Teuerung erreichte Höchststände, Löhne verloren real an Wert, und die Arbeiter fühlten sich von Politik und Arbeitgebern gleichermassen überfahren. Gleichzeitig wuchs die Angst der Behörden, dass revolutionäre Ideen (genährt von Ereignissen in Deutschland und Russland) auf das Land überschwappen könnten.
💡 Wer den weiteren Kontext dieser Spannung – Notrecht, Parteienlandschaft und Kriegsjahre – genauer nachvollziehen will, findet ihn im Beitrag Generalstreik 1918: Politischer Hintergrund.
Die Lage war also gespannt, aber noch nicht eskaliert. Das änderte sich, sobald die Armee in Zürich sichtbar wurde.
11. November: Militär in Zürich – der entscheidende Funke
Warum überhaupt Truppen nach Zürich verlegt wurden
Am 11. November 1918 – ironischerweise dem Tag des Waffenstillstands in Europa – ordnete der Bundesrat die Verlegung zusätzlicher Truppen nach Zürich an. Offiziell ging es darum, öffentlichen Frieden zu schützen.
Inoffiziell war die Nervosität gross: Die Behörden befürchteten, die Arbeiterunion könnte Grosskundgebungen organisieren, die aus dem Ruder laufen.
Wie es auf die Bevölkerung wirkte
Was der Bundesrat als Vorsicht verstand, empfanden viele in Zürich als Einschüchterung. Dass Maschinengewehrabteilungen auf öffentlichen Plätzen standen, wirkte nicht wie Schutz, sondern wie Kontrolle. Gewerkschaften und die Zürcher Arbeitervereine werteten diesen Schritt als offene Provokation. Viele sahen dahinter die Absicht, eine mögliche Mobilisierung für soziale Forderungen im Keim zu ersticken.
Die Reaktion des Oltener Aktionskomitees
Noch am gleichen Tag erreichten Berichte über den Truppenaufmarsch das Oltener Aktionskomitee (OAK). In Olten trafen sich Gewerkschaftsführer und SP-Vertreter, darunter Robert Grimm.
Für sie stand fest: Die Armee sollte die Arbeiterbewegung unter Druck setzen. Das OAK entschied, nicht abzuwarten und setzte die Ereignisse in Bewegung, die schliesslich zum Generalstreik führten.
11. November: Der Streikaufruf
Das OAK veröffentlichte am 11. November seinen berühmten Aufruf „An die Arbeiterschaft der Schweiz“. Dieser Text verbreitete sich über Zeitungen, Gewerkschaften und Arbeitervereine in rasender Geschwindigkeit.
Der Aufruf enthielt zwei Botschaften:
- Sofortige Mobilisierung: Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollten sich auf einen landesweiten Streik vorbereiten.
- Forderungskatalog: 48-Stunden-Woche, Proporz, Altersversicherung, demokratische Reformen – alles Forderungen, die schon lange diskutiert, aber nie umgesetzt worden waren.
Robert Grimm war die prägende Stimme hinter diesem Schritt. Für konservative Kreise wurde er damit zur vermeintlichen Revolutionsfigur; tatsächlich zielte er aber eher darauf ab, den Bundesrat an den Verhandlungstisch zu zwingen.
👉 Eine systematische Übersicht über den Forderungskatalog und seine spätere Umsetzung findest du hier: Forderungen und Ergebnisse des Schweizer Landesstreik.
gegründet: Februar 1918 in Olten
wichtigste Figuren: Robert Grimm, Ernst Nobs, Friedrich Schneider
Zusammensetzung: Gewerkschaftsdachverbände + SP-Exponenten
Funktion: landesweite Koordination der Arbeiterbewegung
Ziel: soziale Reformen & politischer Druck ohne Gewalt
12. November: Der Generalstreik beginnt
Der erste Streiktag
Am Morgen des 12. November legten grosse Teile der Arbeiterschaft die Arbeit nieder. In Zürich, Basel, Winterthur, Bern, St. Gallen und weiteren Städten standen Fabriken still. Züge fuhren nur noch reduziert, Postfilialen blieben geschlossen und der Verkehr brach teilweise zusammen.
Schätzungen sprechen von 250'000 bis 260'000 Streikenden. Eine beeindruckende Zahl für ein Land, das damals knapp vier Millionen Einwohner hatte.
Die Rolle der Zürcher Arbeiterschaft
Besonders stark war der Ausstand in den Zürcher Industriequartieren. Hier hatten sich jahrelange Frustrationen angesammelt: Über steigende Mieten, lange Arbeitstage und den Eindruck, dass die Armee eher gegen als für die Bevölkerung eingesetzt wurde.
Die Reaktion der Armee
General Wille, der Oberbefehlshaber der Armee, war überzeugt, dass der Streik auf eine revolutionäre Bewegung hinauslaufen könnte. Er verstärkte die Truppenpräsenz und bereitete sich auf Ordnungseinsätze vor. Die Stimmung wurde damit noch angespannter.

💡 Wenn du genauer nachvollziehen möchtest, welche Akteure – OAK, Bundesrat, Armee, SP, lokale Komitees – in diesen Tagen welche Rolle spielten, findest du eine vertiefte Darstellung unter Involvierte Personen und Gruppen im Generalstreik.
13. November: Der Konflikt erreicht seinen Höhepunkt
Stillstand in den Städten
Während des zweiten Streiktags blieb der öffentliche Betrieb weitgehend blockiert. Die Arbeiterunion Zürich und verschiedene regionale Komitees versuchten, den Streik kontrolliert und ohne Gewalt zu führen. Das OAK hielt an seiner Linie fest, dass der Streik politisch, aber nicht militärisch gemeint sei.
Die Sicht des Bundesrats
Für den Bundesrat war die Lage unübersichtlich. Mehrere Bundesräte forderten ein hartes Vorgehen, andere warnten vor einer Eskalation.
Die Angst vor einer „revolutionären Situation“ vernebelte die Analyse: Viele in Bern glaubten, der Landesstreik sei Teil eines grossen Umsturzplans, obwohl das OAK gar nicht über Mittel oder Absicht verfügte, die Schweiz in eine Revolution zu führen.
Erste Zusammenstösse
In verschiedenen Städten kam es zu Reibereien zwischen Armee und Streikenden. Noch blieb die Lage aber kontrollierbar.
14. November: Das Ende und die Tragödie von Grenchen
Der Rückzug des OAK
Am Morgen des 14. November rief das OAK den Streik offiziell für beendet aus. Der Druck war enorm: Der Bundesrat stellte strafrechtliche Konsequenzen in Aussicht, und die Armee war bereit, hart durchzugreifen.
Das OAK wollte ein Blutvergiessen verhindern und sah keine realistische Chance, den Bundesrat zu Verhandlungen zu zwingen.
Die Toten von Grenchen
Noch während sich der Streik auflöste, kam es im solothurnischen Grenchen zu einem tragischen Zwischenfall. Soldaten eröffneten das Feuer auf eine Gruppe von Arbeitern, die weiterhin demonstrierten. Drei Männer starben, mehrere wurden verletzt.
Diese Ereignisse wurden später zu einem der schmerzhaftesten Symbole des Generalstreiks und prägten die Erinnerung der Arbeiterbewegung an den Landesstreik über Jahrzehnte.
Warum die Lage überhaupt so schnell eskalierte
- Wirtschaftliche Not
Viele Arbeiterfamilien hatten seit 1914 einen massiven Kaufkraftverlust erlebt. Die Preise stiegen Monat für Monat, während die Löhne real sanken. Lebensmittel waren rationiert, Heizmaterial knapp, und der Alltag bestand aus Anstehen, Verzichten und Improvisieren. Unter solchen Bedingungen wirkte der Streik nicht wie ein radikaler Schritt, sondern wie der einzige verbliebene Weg, die sozialen Probleme überhaupt sichtbar zu machen.
- Politisches Misstrauen
Der Bundesrat deutete die Arbeiterbewegung zunehmend durch die Brille der europäischen Revolutionen. Die Ereignisse in Russland und Deutschland hatten konservative Kreise alarmiert – mit dem Effekt, dass selbst moderate Forderungen rasch als Umsturzversuche gelesen wurden. Auf der anderen Seite glaubte das Oltener Aktionskomitee, der Staat wolle Druck mit militärischen Mitteln beantworten. Die Truppenpräsenz in Zürich bestätigte in ihren Augen genau dieses Bild. Misstrauen wurde zu einem eigenständigen Faktor der Eskalation.
- Kommunikationsdefizite
Zwischen OAK und Bundesrat gab es im November 1918 kaum direkte Gesprächskanäle. Informationen liefen über Zeitungen, Boten oder Gerüchte. Der Bundesrat interpretierte den Streikaufruf als revolutionär, obwohl das OAK klar von politischen Reformen sprach. Umgekehrt deutete das OAK militärische Entscheidungen als gezielte Einschüchterung, selbst wenn sie aus Sicht der Regierung rein präventiv gemeint waren. Beide Seiten reagierten damit eher auf Annahmen als auf Fakten.
- Psychologische Erschöpfung
Vier Jahre Kriegswirtschaft hatten die Bevölkerung ausgelaugt. Die Teuerung fraß Löhne auf, Arbeitszeiten waren lang, und die Spanische Grippe nahm zusätzlich Zehntausende aus dem Alltag heraus. Dieses Gefühl der Überlastung machte die Gesellschaft extrem empfindlich für neue Belastungen. Entscheidungen, die in ruhigeren Zeiten vielleicht diskutierbar gewesen wären, wirkten im November 1918 wie unmittelbare Bedrohungen. Die Eskalationsschwelle war entsprechend tief.
Vier Tage, die die Schweiz veränderten
Vom 11. bis 14. November 1918 bewegte sich die Schweiz am Rand eines innenpolitischen Zusammenbruchs. Der Landesstreik war kein revolutionärer Umsturzversuch, sondern die Zuspitzung jahrelanger sozialer Spannungen. Die Armee, die Arbeiterunion, das Oltener Aktionskomitee, Robert Grimm und der Bundesrat spielten dabei Rollen, die sich gegenseitig verstärkten.
Dass der Streik nur drei Tage dauerte, sagt wenig über seine Wirkung. Die Ereignisse führten indirekt zur Einführung des Proporzwahlrechts, zu späteren Sozialversicherungen und zu einem neuen Bewusstsein für soziale Verantwortung. Wie stark diese vier Tage die politische Kultur, den Ausbau des Sozialstaats und die Stellung der Arbeiterbewegung geprägt haben, findest du in unserem Artikel zu den langfristigen Folgen des Landesstreiks 1918.








