Der Landesstreik von 1918 brachte einen Forderungskatalog hervor, der für die Arbeiterbewegung längst überfällig war. Viele Punkte waren jahrelang diskutiert worden, ohne dass sich politisch viel bewegt hätte. Genau deshalb löste der Streik so viel Energie aus: Er legte offen, wie gross die Lücke zwischen sozialer Realität und politischer Entscheidungsfreude geworden war.

(💡 Wer genauer verstehen möchte, aus welchem gesellschaftlichen Klima der Konflikt entstand, findet hier einen vertiefenden Überblick zu den Hintergründen und Ursachen des Landesstreiks.)

Die unmittelbaren Ergebnisse fielen nüchtern aus – der Streik wurde schnell beendet, die Regierung blieb hart. Doch die Tage setzten Reformprozesse in Gang, die in den Jahren danach kaum mehr aufzuhalten waren.

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Und los geht's

Die neun Forderungen des Oltener Aktionskomitees

Der Historische Streikaufruf des Oltener Komitees.
Quelle: Oltener Aktionskomitee - SBB Historic

Am 11. November 1918 verschickte das Oltener Aktionskomitee (OAK) seinen Aufruf «An die Arbeiterschaft der Schweiz». Darin standen neun konkrete Forderungen, die während des Landesstreiks im November 1918 immer wieder genannt wurden.

Die Streikleitung wollte damit aus ihrer Sicht längst überfällige Korrekturen anstossen. Schauen wir uns jede Forderung kurz an: Was wurde gefordert und was davon ist später wirklich passiert?

1. Sofortige Neuwahl des Nationalrats nach Proporz

Worum es ging:

Das OAK wollte, dass der Nationalrat sofort nach einem neuen System gewählt wird: Verhältniswahlrecht, auf Deutsch oft einfach Proporz genannt.

Das Problem 1918: In vielen Industriegebieten stimmten viele Leute links, waren im Parlament aber massiv untervertreten.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Schon vor dem Landesstreik hatte das Volk den Proporz an der Urne angenommen. Die Reform stand also schon in der Verfassung, war aber noch nicht umgesetzt.

1919 fanden dann die ersten Proporzwahlen statt. Die Sozialdemokratische Partei (SP) legte kräftig zu, der Freisinn verlor seine Dominanz. Der Landesstreik war damit nicht der Start, aber der Beschleuniger dieser Entwicklung.

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Kurz erklärt: Majorz vs. Proporz

Beim Majorzsystem (damals üblich) gewinnt in einem Wahlkreis, wer am meisten Stimmen hat – oft also eine bürgerliche Partei, selbst wenn viele andere Parteien zusammen mehr Stimmen hätten.
Beim Proporz werden Sitze ungefähr nach Stimmenanteil verteilt. Bekommt eine Partei 30 % Stimmen, soll sie auch etwa 30 % der Sitze erhalten.

2. Frauenstimmrecht

Worum es ging:

Das Oltener Aktionskomitee forderte 1918: Frauen sollen auf nationaler Ebene politisch mitbestimmen können.

In Ländern wie Deutschland und Österreich bekamen Frauen kurz nach Kriegsende bereits das Stimmrecht. In der Schweiz dagegen war Politik stark männlich und bürgerlich geprägt. Die Idee, Frauen miteinzubeziehen, war zwar in der Diskussion, wurde politisch aber blockiert.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Kurzfristig: gar nichts.

Bundesrat und Parlament nahmen die Forderung nach dem Streik nicht ernst. In bürgerlichen Kreisen diente sie eher als Beispiel dafür, wie „übertrieben“ der Forderungskatalog sei.

Erst 1971 erhielten Frauen auf Bundesebene das Stimmrecht – mehr als 50 Jahre nach dem Landesstreik.

3. Einführung einer Arbeitspflicht

Worum es ging:

Die Forderung des Aktionskomitees beinhaltete eine allgemeine Arbeitspflicht: Wer arbeitsfähig ist, soll auch tatsächlich arbeiten müssen.

Die Idee war nicht: „Zwangsarbeit für alle“, sondern eine Art Gegenmodell zu zwei Dingen:

  • unkontrollierter Arbeitslosigkeit
  • und Wohlhabenden, die von Vermögen lebten und sich nicht beteiligten

In der Kriegs- und Krisenzeit überlegten mehrere Länder, wie man Arbeitskraft „gerecht“ verteilen könnte.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Diese Forderung blieb praktisch folgenlos: Sie wurde nie umgesetzt und verschwand relativ rasch wieder aus der politischen Debatte.

4. Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden

Worum es ging:

Die Arbeitszeit sollte auf 48 Stunden pro Woche begrenzt werden. Das bedeutet etwa acht Stunden pro Tag bei sechs Tagen Arbeit.

Vor dem Landesstreik im November 1918 waren 55–60 Stunden pro Woche in Fabriken normal. Die Forderung nach einem 8-Stunden-Tag war international im Trend: Auch in anderen Ländern kämpften Arbeiter dafür, nicht ihr ganzes Leben in der Fabrik zu verbringen.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Hier sieht man den Einfluss des Streiks am klarsten:

  • Bereits 1919/20 wurde die 48-Stunden-Woche in vielen Branchen Realität – über Gesamtarbeitsverträge und neue Regeln.
  • Die Arbeitszeit sank deutlich, oft bei praktisch gleichem Lohn.

5. Reorganisation der Armee zu einem „Volksheer“

Worum es ging:

Die Armee sollte zu einem „Volksheer“ umgebaut werden: weniger elitär, weniger klassengeprägt, stärker demokratisch kontrolliert.

Denn: Die Armee galt vielen Arbeitern als „Armee der Bürgerlichen“.

  • General Ulrich Wille setzte auf harten Drill nach preussischem Vorbild.
  • Viele Wehrmänner leisteten im Krieg Hunderte Diensttage ohne angemessenen finanziellen Ausgleich.
  • Die Armee war immer wieder im Innern im Einsatz – gegen Streiks und Demonstrationen.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Kurzfristig passierte das Gegenteil:

  • Die Armee wurde massiv gegen den Landesstreik eingesetzt.
  • In Grenchen wurden drei Arbeiter von Soldaten erschossen.

Eine tiefgreifende Reform zur „Volksarmee“ blieb aus. Die Armee blieb bis weit ins 20. Jahrhundert politisch klar bürgerlich geprägt.

💡 Du willst die Dynamik zwischen Militär und OAK besser verstehen? Schau bei unserer detaillierten Rekonstruktion des Ausbruchs des Landesstreiks im November 1918 vorbei.

6. Ausbau der Lebensmittelversorgung

Worum es ging:

Die Versorgung mit Lebensmitteln sollte zuverlässiger und fairer werden. Genügend Brot, Milch, Kartoffeln und Preise, die sich normale Leute leisten konnten.

Während des Kriegs war die Schweiz stark von Importen abhängig. Blockaden, Transportprobleme und Preisexplosionen führten dazu, dass viele Menschen kaum über die Runden kamen. In manchen Städten war rund ein Viertel der Bevölkerung auf Unterstützung angewiesen. Die Vision des Oltener Aktionskomitees verlangte, dass der Staat stärker eingreift, statt alles dem Markt zu überlassen.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Schon während des Kriegs gab es:

  • Rationierungssysteme
  • kantonale Preisaufsichtsstellen

Nach dem Landesstreik wurden diese Instrumente ausgebaut:

  • mehr Preisüberwachung
  • bessere Organisation der kommunalen Versorgung
  • erste Ansätze einer koordinierteren Versorgungspolitik

7. Alters- und Invalidenversicherung

Worum es ging :

Das OAK forderte im Zuge des Generalstreiks im November 1918 eine staatliche Alters- und Invalidenversicherung – also genau das, was später als AHV/IV kam: eine Grundrente für alte oder dauerhaft arbeitsunfähige Menschen.

Schon vor 1914 gab es Diskussionen über Rentenmodelle, aber ohne Folgen.
Der Krieg machte brutal sichtbar, wie viele Menschen im Alter oder bei Krankheit völlig ungesichert waren.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Hier ist die Geschichte etwas länger:

  • Während des Landesstreiks und in einer ausserordentlichen Session signalisierte der Bundesrat: Eine Altersversicherung sei grundsätzlich denkbar.
  • Kurz nach dem Generalstreik begann eine Expertenkommission, ein konkretes Modell auszuarbeiten.
  • 1925 stimmte das Volk einem Verfassungsartikel zur AHV zu.
  • 1948 wurde die AHV tatsächlich eingeführt.

Also: keine Sofortlösung – aber der Landesstreik und die Forderung des Oltener Aktionskomitees war ein Startpunkt, nach dem niemand mehr ernsthaft bestreiten konnte, dass es so eine Versicherung braucht.

8. Staatsmonopole für Import und Export

Worum es ging:

Der Bund sollte für wichtige Güter alleiniger Importeur oder Exporteur werden, also eine Art Monopol haben.

Die Idee dahinter:

  • Der Staat kauft zentral ein und verkauft oder verteilt weiter.
  • So soll verhindert werden, dass private Zwischenhändler in Krisenzeiten riesige Gewinne machen.
  • Gleichzeitig sollte die Versorgungssicherheit steigen.

Im Krieg hatte der Bund bereits teilweise so gehandelt (z. B. bei Getreide), das Oltener Aktionskomitee wollte das dauerhaft machen.

Was nach dem Generalstreik passierte:

Ein echtes, umfassendes Staatsmonopol gab es nicht.
Die Forderung floss eher in grössere Debatten ein – zum Beispiel über:

  • genossenschaftliche Läden
  • stärkere Kontrolle von Kartellen
  • die Rolle des Staates in der Wirtschaft allgemein

Als direkte Streikforderung blieb sie aber unerfüllt.

9. Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden

Worum es ging:

Die Schulden des Staats nach dem Krieg sollten vor allem von den Wohlhabenden getragen werden. Zum Beispiel durch einmalige Vermögensabgaben oder sehr hohe Steuern auf grosse Vermögen.

Im Krieg hatten viele einfache Leute gespartes Vermögen verloren oder sich verschuldet, während manche Unternehmen und Grossbauern gut verdienten.

Was nach dem Generalstreik passierte:

  • Ja, es gab eine stärkere Diskussion über progressive Steuern (also höhere Steuersätze für hohe Einkommen/Vermögen).
  • Aber eine gezielte, grosse „Abgabe der Reichen“, um Staatsschulden zu tilgen, kam nicht zustande.

Diese Forderung gehört klar zur Kategorie: politisch nicht durchgesetzt.

Was passierte unmittelbar nach dem Landesstreik?

Unmittelbar nach dem Streik sah es so aus, als hätte die Bewegung verloren. Das OAK beendete den Streik nach drei Tagen, ohne dass auch nur ein Punkt der Forderungen vom Bundesrat angenommen worden wäre. Einige Streikführer des Aktionskomitees, darunter Robert Grimm, wurden angeklagt. Die Armee blieb in zentralen Städten stationiert, um „Ruhe und Ordnung“ abzusichern.

Die Bilanz sah düster aus:

  • Der Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit bezeichneten den Landesstreik als „Verbrechen“
  • Rund 3'500 Personen wurden von der Militärjustiz untersucht, es kam zu über 100 Verurteilungen, besonders unter Eisenbahnern.
  • 1919 folgte der Landesstreikprozess gegen 21 Streikführer; Robert Grimm und zwei weitere erhielten je sechs Monate Gefängnis, Ernst Nobs vier Wochen. Mehr über Grimm, Nobs und andere Akteure findest du in unserer Übersicht: Wichtige Persönlichkeiten des Schweizer Landesstreiks.
  • Verantwortliche für den Schusswaffeneinsatz in Grenchen wurden dagegen nie belangt.

Doch hinter den Kulissen kam Bewegung in einige wichtige Punkte:

Das Verhältniswahlrecht: Die schnellste Reaktion

Schon 1919 führte die Schweiz das Verhältniswahlrecht ein. Es war das direkteste politische Ergebnis des Landesstreiks, auch wenn es offiziell nicht als „Zugeständnis“ bezeichnet wurde. Die politische Landschaft veränderte sich dadurch sichtbar: Die sozialdemokratische Partei gewann an Gewicht, und die Sitze im Nationalrat wurden gerechter verteilt.

Der Ausbau der Sozialpolitik

Auch wenn die AHV erst 1948 eingeführt wurde, begann die politische Vorarbeit unmittelbar nach dem Landesstreik. Die Idee einer staatlichen Alters- und Invalidenversicherung war ab 1918 kein Minderheitenprojekt mehr. Der politische Boden war gelegt und die Dringlichkeit nicht mehr wegzudiskutieren.

Arbeitszeitverkürzungen in einzelnen Branchen

Direkt nach dem Streik kam die 48-Stunden-Woche nicht als nationales Gesetz. Aber in diversen Branchen setzten Arbeitgeber und Gewerkschaften bereits ab 1919 neue Regelungen um. Fabrikverordnungen wurden angepasst, und der politische Druck blieb konstant hoch.

Preisüberwachung und Versorgungskommissionen

Mehrere Kantone erweiterten ab Ende 1918 ihre Preisaufsichtsstellen. In Zürich, Basel und Bern entstanden effizientere Mechanismen, um Lebensmittelpreise zu kontrollieren. Der Bundesrat blieb dabei zurückhaltend, doch der öffentliche Druck liess das Thema nicht mehr verschwinden.

Neue politische Kräfteverhältnisse

Der Landesstreik veränderte die Politik nachhaltig:

  • Die sozialdemokratische Partei wurde zur festen nationalen Kraft.
  • Gewerkschaften gewannen an Struktur und Einfluss.
  • Der Bundesrat musste lernen, Sozialpolitik nicht mehr als Störfaktor zu behandeln.

 👉 Wie stark die Schweiz langfristig von den Ereignissen geprägt wurde, zeigt diese vertiefte Analyse: Das langfristige Erbe des Schweizer Generalstreiks

Was heute vom Generalstreik bleibt

Der Landesstreik 1918 war also gleichzeitig Niederlage und Türöffner. Kurzfristig setzten sich Bundesrat, Armee und bürgerliche Parteien durch. Mit der klaren Botschaft: Ein zweiter Generalstreik ist nicht erwünscht.

Mittelfristig setzte sich aber ein Teil jener Ideen durch, die auf den Streikplakaten standen: gerechtere politische Vertretung durch den Proporz, kürzere Arbeitszeiten, der Aufbau eines Sozialstaats mit AHV und einer stärkeren Rolle der Gewerkschaften.

Den Landesstreik war also kein Schweizer Oktoberrevolutiönchen, wie es konservative Stimmen damals zeichneten, und auch kein romantischer Heldenmythos der Arbeiterbewegung. Eher ein Stresstest für ein politisches System, das an seine sozialen Grenzen gekommen war.

Wenn du dir heutige Debatten um Renten, Arbeitszeiten, Kaufkraft oder die Frage „Wer trägt die Kosten einer Krise?“ anschaust, tauchen Motive von 1918 fast unverändert wieder auf.

Wer arbeitet viel, wer profitiert stark, wer trägt mehr Risiko als andere?

Vielleicht ist das der wichtigste Nachhall von 1918: Die grossen sozialen Konflikte der Schweiz wurden nicht mit einem Schlag entschieden, sondern in Etappen. Ein Teil davon spielte sich in diesen drei Streiktagen im November ab, der Rest in den Jahrzehnten danach am Verhandlungstisch, an der Urne und im Alltag der Leute. 

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Jana Geldner