Im November 1918 kam es in der Schweiz zum Landesstreik, weil einerseits die wirtschaftliche Situation dramatisch war (Inflation, Teuerung, Versorgungsengpässe, sinkende Reallöhne), andererseits politisch tiefgreifende Forderungen laut wurden (z. B. 48-Stunden-Woche, Verhältniswahlrecht, Sozialversicherungen). Eine wichtige Rolle spielte auch die Sorge des Bundesrats vor einer revolutionären Entwicklung nach dem Vorbild Russlands.
Der Streik wurde vom Oltener Aktionskomitee (OAK) ausgelöst und dauerte vom 12. bis 14. November 1918. Sein Kern liegt in einem Gemisch aus wirtschaftlicher Not, politischem Frust und sozialem Druck, das sich über vier Jahre Weltkrieg aufstaute.
Die Schweiz war militärisch neutral, wirtschaftlich aber stark vom Kriegsgeschehen abhängig. Die Versorgungslage verschlechterte sich, Lebensmittelpreise schossen hoch, Löhne stagnierten und die Arbeitstage dauerten oft zwölf Stunden oder mehr. Während grosse Firmen und Banken weiterhin Gewinne erzielten, fühlte sich ein grosser Teil der Bevölkerung mit den Folgen allein gelassen.
Kurzüberblick: Warum kam es 1918 zum Landesstreik?
- Wirtschaft: Inflation, Teuerung, Versorgungsengpässe, sinkende Reallöhne
- Arbeit: extrem lange Arbeitstage, Forderung nach der 48-Stunden-Woche
- Politik: Majorzwahlrecht, fehlende Repräsentation, Angst des Bundesrats vor Revolution
- Organisation: Oltener Aktionskomitee (OAK) als Koordinationsstelle der Arbeiterbewegung
- Zeitpunkt: Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918, ausgelöst nach Truppenaufmärschen in Zürich
👉 Wie es schließlich im Detail zu dem Ausbruch kam und wie die Tage zwischen dem 11. und 14. November aussahen, findest du hier: Gründe für den Ausbruch des Landesstreiks.
Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Ein Land unter Druck
Versorgungskrisen und explodierende Preise
Ein Grossteil der Importe – vor allem Getreide, Futtermittel, Kohle und industrielle Rohstoffe – lief vor 1914 über deutsche, französische oder italienische Verkehrswege. Mit Kriegsbeginn führten die Grossmächte Blockaden und Exportkontrollen ein, sodass die schweizerische Versorgung Schritt für Schritt ins Wanken geriet. Transporte verzögerten sich, viele Güter erreichten das Land nur noch in stark reduzierten Mengen.
Zwischen 1914 und 1918 verteuerten sich Grundnahrungsmittel im Durchschnitt um mehr als das Doppelte; bei Brot, Milch und Kartoffeln waren die Ausschläge teils noch höher. Der Lohnanstieg blieb deutlich hinter der Teuerung zurück, viele Arbeiterfamilien verloren innerhalb kurzer Zeit einen grossen Teil ihrer realen Kaufkraft.
Der Alltag war zunehmend von Rationierungen geprägt: Öl, Zucker und Mehl gab es teilweise nur noch mit Bezugsausweisen, wer keine Beziehungen hatte, stand öfter vor leeren Regalen. Die Landwirtschaft konnte die Lücke nicht schliessen. Fehlende Futtermittel reduzierten den Viehbestand, was die Produktion von Milch und Fleisch schwächte. Gleichzeitig wurde Heizmaterial knapp, weil Kohleimporte aus Deutschland immer wieder ausfielen und der verstärkte Griff zum Holz die Wälder an ihre Grenzen brachte.
Arbeitstage, die kaum endeten
In der Industrie – insbesondere Metall-, Maschinen- und Textilbetriebe – erhöhte sich der Arbeitsdruck spürbar. Betriebe versuchten, trotz Rohstoffmangel weiter zu produzieren, und setzten auf lange Schichten. Arbeitstage von elf bis zwölf Stunden waren verbreitet, ein Relikt aus der Vorkriegszeit, das durch die Teuerungskrise noch schwerer wog. Lohnerhöhungen, wo sie überhaupt gewährt wurden, kompensierten die Preissteigerungen kaum.
Die Forderung nach der 48-Stunden-Woche entstand deshalb nicht aus Theorie, sondern aus konkreter Überlastung. Gewerkschaften und Arbeitervereine dokumentierten Unfälle, gesundheitliche Beschwerden und chronische Erschöpfung. Kinderarbeit nahm wieder zu, weil zusätzliche Einkommen nötig waren, und viele Frauen arbeiteten in Schichten, während sie zugleich den Haushalt stemmen mussten.
Der Bundesrat reagierte nur zögerlich. Es gab punktuelle Eingriffe wie etwa Preisüberwachung und Versorgungskommissionen , der Arbeitsmarkt blieb jedoch weitgehend den Arbeitgebern überlassen. Die soziale Frage blieb ungelöst, während der Druck auf die Haushalte weiter wuchs. Genau hier entstand der Nährboden für Misstrauen und Protest.
| Bereich | Kernprobleme 1914–1918 | Typische Folgen |
|---|---|---|
| Wirtschaft | Teuerung, Versorgungsengpässe, sinkende Reallöhne | Rationierungen, Verschuldung, Verzicht |
| Arbeit | 11–12-Stunden-Tage, fehlende Regulierung | Erschöpfung, Unfälle, Kinderarbeit |
| Politik | Majorzwahlrecht, schwache Vertretung der Arbeiterschaft | Frust, Radikalisierungsängste |
| Sicherheit | verstärkte Militärpräsenz im Inland | Gefühl der Einschüchterung |
Politische Spannungen: Der Bundesrat unter Misstrauen
Angst vor Revolution
Die russische Revolution von 1917 sorgte europaweit für Nervosität. In der Schweiz beobachteten Regierung und konservative Presse die Ereignisse mit Sorge. Arbeitervereine, sozialdemokratische Zeitungen und Gewerkschaften wurden teilweise als mögliche Träger revolutionärer Ideen wahrgenommen, obwohl ihre Forderungen mehrheitlich sozialreformerisch waren.
Der Bundesrat hielt am Neutralitätskurs fest, verstärkte gleichzeitig aber die innenpolitische Kontrolle. Verordnungen erweiterten die Kompetenzen der Militärbehörden, etwa bei Versammlungsverboten oder beim Einsatz von Truppen zur „Wiederherstellung der Ordnung“.
Besonders in Zürich wurden Offiziere stationiert, wo man grössere Proteste erwartete. In der Arbeiterschaft entstand der Eindruck, der Staat bereite sich weniger auf unklare Krisen vor, sondern konkret auf ein Eingreifen gegen das eigene Volk.
Die Kommunikation zwischen Regierung und Arbeiterorganisationen war von Misstrauen geprägt. Der Bundesrat fürchtete eine Radikalisierung, die Arbeiterbewegung wiederum hatte das Gefühl, ihre Anliegen würden reflexartig als Sicherheitsrisiko eingestuft. Politische Kompromisse wurden dadurch schwieriger.
Diese politischen Spannungen sind eng verbunden mit den Gruppen und Personen, die den Streik prägten – dazu mehr hier: Wichtige Gruppen und Persönlichkeiten des Landesstreiks.
Ein Wahlrecht, das viele ausschloss
Auf nationaler Ebene galt in der Schweiz noch das Majorzsystem, das konservative und bürgerliche Kräfte klar bevorzugte. Industrielle Zentren wie Zürich, Basel oder Bern hatten trotz grosser Arbeiterschaft weniger parlamentarisches Gewicht, als ihrer Bevölkerungszahl entsprochen hätte.
Die Sozialdemokratie drängte deshalb auf die Einführung des Proporzwahlrechts: Ohne Verhältniswahlrecht, so ihr Argument, würden weder die Interessen der Arbeiterschaft noch jene der Gewerkschaften angemessen repräsentiert.
Der Bundesrat zögerte jedoch, weil der Proporz die parteipolitische Landschaft verändern und den sozialdemokratischen Einfluss stärken würde.
Dieses Ungleichgewicht führte zu einer dauerhaften Spannung: Die Regierung pochte auf Ordnung und Stabilität, während viele Menschen das Gefühl hatten, politisch kaum durchzudringen. Der Landesstreik machte dieses Repräsentationsdefizit sichtbar.
📺 Noch mehr zur Entwicklung und den Hintergründen des Generalstreiks (und ein paar spannende historische Bilder) findest du auch in dieser Doku von NZZ:
Die Rolle der Städte: Zürich und Bern im Brennpunkt
Zürich als soziales und politisches Spannungszentrum
Zürich war das industrielle Herz der Schweiz. In den Kreisen 4 und 5 konzentrierten sich Textil-, Maschinen- und Chemiebetriebe, der Wohnungsbau hielt mit dem Wachstum aber nicht Schritt. Steigende Mieten und enge Wohnungen prägten den Alltag vieler Familien. Die Teuerungskrise verstärkte diese Probleme.
Weil Zürich stark von importierten Lebensmitteln abhing, schlugen die Versorgungsschwierigkeiten besonders durch. Bereits 1916 waren Warteschlangen vor städtischen Verkaufsstellen normal. Die Stadt versuchte mit kommunalen Lebensmittelstellen gegenzusteuern, konnte die Lage aber nur begrenzt stabilisieren.
Als 1918 zusätzliche Truppen – inklusive Maschinengewehrabteilungen – in die Stadt verlegt wurden, sah ein grosser Teil der Arbeiterschaft darin kein neutrales Sicherheitsdispositiv, sondern eine klare Machtdemonstration. Das erhöhte die Streikbereitschaft spürbar.
Bern als Schnittstelle zwischen Regierung und Öffentlichkeit
Bern war weniger industriell geprägt, aber als Sitz von Bundesverwaltung, Bundesrat und Generalstab politisches Zentrum. Entscheide zu Wirtschaftslenkung, Mobilmachung und militärischer Präsenz wurden hier gefällt.
Die Stadt war in den Kriegsjahren Schauplatz zahlreicher Kundgebungen gegen Preisentwicklung und einzelne Regierungsentscheide. Arbeitervereine der Region Bern waren gut organisiert und trugen ihre Kritik direkt vor die Institutionen. In den Tagen vor dem Landesstreik kam es wiederholt zu Demonstrationen, was die Regierung zusätzlich beunruhigte und ihre Bereitschaft verstärkte, militärische Mittel bereitzuhalten.
Das Oltener Aktionskomitee: Motor der Koordination
Das Oltener Aktionskomitee (OAK) entstand im Februar 1918 an einem landesweiten Gewerkschaftstreffen in Olten – bewusst gewählt als Eisenbahnknoten, gut erreichbar aus allen Landesteilen.

Im Komitee sassen führende Gewerkschafts- und Parteivertreter, darunter Robert Grimm, Ernst Nobs und Friedrich Schneider.
Grimm wurde aufgrund seiner Rolle in der Sozialdemokratie und seiner politischen Erfahrung zur prägenden Figur. Das OAK war aber kein einheitlicher Block: Es gab moderatere und radikalere Positionen, diskutiert wurde vor allem die Frage, wie viel Druck nötig und verantwortbar sei.
Wichtig: Das OAK verstand sich als Koordinations- und Verhandlungsorgan, nicht als revolutionäre Zentrale.
Die zentralen Forderungen des Landesstreiks
Der Streikaufruf vom November 1918 stützte sich auf einen bereits früher ausgearbeiteten Forderungskatalog. Die wichtigsten Punkte waren:
- 48-Stunden-Woche
- staatliche Preisregulierung und Kontrolle der Grundversorgung
- Alters- und Invalidenversicherung
- Einführung des Verhältniswahlrechts (Proporz)
- Mitbestimmung der Arbeiterorganisationen beim wirtschaftlichen Wiederaufbau
Für konservative Kräfte wirkten diese Forderungen wie ein Eingriff in bestehende Machtverhältnisse. Rückblickend zeigt sich aber, dass ein grosser Teil davon später umgesetzt oder teilweise realisiert wurde. Das OAK formulierte also eher strukturelle Reformen als revolutionäre Umsturzpläne.
💡 Eine Übersicht darüber, wie diese Forderungen im Detail aussahen, findest du hier: Landesstreik Forderungen und Ergebnisse.
November 1918: Der Moment, in dem alles kippte
Der unmittelbare Auslöser des Landesstreiks war der Entscheid des Bundesrats, Mitte November 1918 zusätzliche Truppen nach Zürich zu verlegen. Hintergrund waren Demonstrationen und Unruhen sowie die Befürchtung, nach Kriegsende könne die Lage unkontrollierbar werden. Der Generalstab verstärkte die städtischen Sicherungstruppen, darunter Einheiten mit Maschinengewehren.
Diese Massnahme wurde ohne Abstimmung mit den Arbeiterorganisationen getroffen. Das OAK wertete die Truppenverschiebung als Versuch, Kundgebungen zu unterdrücken, und rief am 11. November zum Generalstreik auf.
Einschneidende Ereignisse des Streiks
Der Streik begann am 12. November 1918 und dauerte drei Tage. Mit rund 250’000 bis 260’000 Beteiligten war er einer der grössten Arbeitsniedergänge der Schweizer Geschichte.
- öffentlicher Verkehr stark eingeschränkt
- viele Poststellen und Banken nur reduziert in Betrieb
- grosser Teil der Industrie stillgelegt
- starke Beteiligung in Städten wie Zürich, Basel, Bern und Winterthur, deutlich schwächere in ländlichen Gebieten
Die Armee war in Städten mit hoher Streikbeteiligung deutlich sichtbar. In Grenchen kam es zu einem besonders tragischen Zwischenfall: Drei Arbeiter wurden erschossen, nachdem es zu Konflikten zwischen Streikenden und Militär gekommen war. Diese Ereignisse prägten die spätere Erinnerung an den Landesstreik stark.
Warum die Lage eskalierte
Die Eskalation im November 1918 lässt sich auf drei eng verknüpfte Faktoren herunterbrechen:
- Soziale Not: Reallohnverluste seit 1914, Höchststände bei vielen Preisen und ausbleibende Entlastungsmassnahmen machten den Streik für viele zu einem letzten Mittel.
- Kommunikationsdefizit: Der Bundesrat sah im OAK eine potenziell revolutionäre Kraft, das OAK sah sich gezwungen, Druck zu machen, um überhaupt gehört zu werden. Verhandlungen wurden durch Misstrauen blockiert.
- Gesellschaftliche Erschöpfung: Vier Jahre Kriegswirtschaft, Teuerung, lange Arbeitszeiten und zusätzlich die Spanische Grippe hatten die Bevölkerung ausgelaugt. Die Bereitschaft, weitere Opfer zu tragen, war minimal.
Timeline des Generalstreiks
8. - 10. November
Truppenverlegungen nach Zürich
11. November
OAK ruft zum Generalstreik auf
12. November
Beginn des Landesstreiks
13. November
Zusammenstösse in mehreren Städten
14. November
Rückzug des OAK, Ende des Streiks
Nachwirkungen: Was der Landesstreik tatsächlich veränderte
Obwohl der Generalstreik nach wenigen Tagen abgebrochen und das OAK zum Rückzug gezwungen wurde, hatte der Konflikt weitreichende Folgen:
- 1919: Einführung des Verhältniswahlrechts für Nationalratswahlen
- schrittweiser Ausbau arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen und Arbeitszeitverkürzungen
- langfristige Vorbereitung der AHV, die 1948 eingeführt wurde
- Stärkung der Sozialdemokratie als feste Kraft im politischen System
- Der Landesstreik markierte damit einen Wendepunkt: Die soziale Frage war nicht mehr aus der nationalen Politik wegzudenken.
👉 Auch langfristig beeinflusste der Landesstreik die Schweizer Politik. Eine umfangreiche Analyse der historischen Wirkung findest du hier: Schweizer Generalstreik langfristige Folgen
Ein ambivalentes Kapitel der Erinnerung
Lange blieb der Landesstreik heftig umstritten. Bürgerliche Kreise betonten vor allem die Abwehr eines vermeintlichen Umsturzversuchs, Arbeiterorganisationen verwiesen auf die massive soziale Ungleichheit. Erst ab den 1970er-Jahren setzte eine breitere historische Aufarbeitung ein, die den Streik stärker als Ausdruck struktureller Spannungen interpretiert.
Heute gilt der Landesstreik von 1918 als Moment, in dem sichtbar wurde, wie eng wirtschaftliche Sicherheit, politische Teilhabe und Vertrauen in staatliche Institutionen miteinander verbunden sind. Die Woche im November war kurz – ihre Nachwirkungen prägen die Schweizer Politik jedoch bis heute.













