Im November 1918 stand die Schweiz am Rand eines sozialpolitischen Umbruchs. Zwar endete der Schweizer Generalstreik nach nur drei Tagen, doch seine Wirkung entfaltete sich langsam über Jahrzehnte.
Gleich vorneweg: Die langfristigen Folgen des Schweizer Landesstreiks liegen vor allem in der schrittweisen Demokratisierung, dem Ausbau des Sozialstaats und einer neuen politischen Balance, die das Land bis heute prägt.
Der Konflikt von 1918 brachte tiefe Risse zum Vorschein, führte aber paradoxerweise dazu, dass die Schweiz danach behutsamer, kompromissbereiter und sozialer wurde. Wer verstehen möchte, weshalb unser politisches System so stark auf Ausgleich und Mitsprache setzt, landet fast zwangsläufig beim Landesstreik.
Hintergrund: Warum der Landesstreik möglich wurde
Die Jahre vor 1918 hatten dem Land einiges abverlangt. Was damals im November 1918 innerhalb weniger Tage dramatisch eskalierte, war ja nur die sichtbare Spitze eines grösseren Problems: Der Erste Weltkrieg war an der neutralen Schweiz zwar vorbeigezogen, doch die ökonomischen Folgen waren heftig. Die Löhne stagnierten, während die Lebensmittelpreise durch die Decke gingen. Viele Familien standen am Rand des Existenzminimums.
Die Arbeiterbewegung selbst befand sich in einer Phase der Neuorientierung. Die Gründung der Sozialdemokratischen Partei lag erst wenige Jahrzehnte zurück, Gewerkschaften professionalisierten sich, und die Erfahrungen der russischen Revolution 1917 wirkten wie ein Katalysator.
Das Oltener Aktionskomitee (OAK) war das strategische Zentrum dieser Kräfte und zugleich ein Ort des Ringens: zwischen Reformern, die eine demokratische Öffnung wollten, und radikaleren Stimmen, die den Moment für einen grundlegenden Systemwechsel sahen.
Die wirtschaftliche Lage nach dem Krieg, Forderung nach Reformen und eine Spaltung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum waren gemeinsam die grundlegenden Ursachen für den Ausbruch des Generalstreik im November 1918. Eine ausführliche Darstellung dieser Vorgeschichte bietet unser Beitrag zu Hintergrund und Ursachen des Landesstreiks.
👂Wer hier noch tiefer eintauchen möchte, kann in diese Podcastfolge reinhören:
Der eigentliche Streik: Die Tage vom 12.-14. November
Der Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918 dauerte nur drei Tage, aber in dieser kurzen Zeit kam alles zusammen, was zuvor über Jahre gegärt hatte: Rund 250'000 Arbeiterinnen und Arbeiter legten die Arbeit nieder.
Die Forderungen des Oltener Aktionskomitees waren breit abgestützt: Proporzwahlrecht auf nationaler Ebene, AHV, Frauenstimmrecht, Einführung der 48-Stunden-Woche, eine Reorganisierung der Armee, Sicherung der Lebensmittelversorgung und eine demokratischere Staatsordnung.
Die Reaktion des Bundesrats fiel jedoch kompromisslos aus. Truppen wurden in Zürich, Basel, Biel und weiteren Städten stationiert, Maschinengewehre auf öffentlichen Plätzen postiert, Streikposten verdrängt. Die Angst vor einem «Schweizer Bolschewismus» war politisch groß, und die Behörden hatten das Gefühl, der Staat stünde am Rand des Zusammenbruchs.
Das OAK beschloss schliesslich, den Streik abzubrechen, weil ein bewaffneter Konflikt mit der Armee drohte. Der Generalstreik endete, aber seine langfristige Wirkung hatte erst begonnen.
– Einführung des Proporzwahlrechts
– AHV und soziale Grundsicherung
– Frauenstimmrecht
– 48-Stunden-Woche
– Demokratisierung der Armee
– staatliche Sicherung der Lebensmittelversorgung
– stärkere politische Beteiligung der Arbeiterschaft
💡 Eine strukturierte Übersicht über diese Forderungen und ihre spätere Umsetzung findest du im Artikel Schweizer Generalstreik: Forderungen und Ergebnisse.
Juristische Aufarbeitung
Die Konsequenzen des Landesstreiks trafen viele Beteiligte schwer. Der Bundesrat übergab die juristische Aufarbeitung der Militärjustiz. Gegen rund 3000 Personen wurden Verfahren eingeleitet, vor allem gegen Eisenbahner, die kurz vor Streikbeginn mit einem militärrechtlichen Streikverbot belegt worden waren. 147 Verurteilungen folgten.
Im wichtigsten Prozess, Frühjahr 1919, standen die OAK-Mitglieder Robert Grimm, Fritz Platten und Friedrich Schneider vor Gericht. Sie wurden wegen Meuterei zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Ernst Nobs, später der erste sozialdemokratische Bundesrat, erhielt vier Wochen Gefängnis, weil er als Redaktor der SP-Zeitung «Volksrecht» Berichte veröffentlicht hatte, die als Aufwiegelung ausgelegt wurden.
Diese Prozesse wirkten lange nach. Die Arbeiterbewegung sah darin den Versuch, sie politisch einzuschüchtern. Die bürgerliche Seite fand darin Bestätigung ihrer Angst vor einem angeblichen revolutionären Plan. Dass sich später herausstellte, dass es keinen bolschewistischen Umsturzversuch gegeben hatte, änderte zunächst wenig an der Stimmung jener Jahre.
Das Militär nach dem Landesstreik
Die Rolle der Armee im Landesstreik bleibt ein heikles Kapitel: Die Schüsse von Grenchen, die Präsenz schwer bewaffneter Truppen in Zürich und anderen Städten.
Kurzfristig führte der Streik zu einer Stärkung konservativer Abwehrmechanismen: Heimatschutzverbände, bürgerliche Selbstschutzgruppen, misstrauische Staatsstrukturen. Diese Organisationenentstanden teils als direkte Antwort auf den Landesstreik, weil man sich auf zukünftige Unruhen vorbereiten wollte.

Auf der rechten Seite formierten sich bewaffnete Bürgerwehren, die seit Anfang November 1918 entstanden waren. Sie standen in losem Kontakt zu paramilitärischen Milizen in anderen Ländern, verloren aber in der Schweiz rasch an Bedeutung. Viel gefährlicher wirkte der 1919 gegründete Schweizerische Vaterländische Verband (SVV), eine Dachorganisation solcher Bürgerwehren, von Streikbruchdiensten und verdeckten Beobachtungsgruppen, die linke Organisationen überwachte. Bis 1948 blieb dieser Verband ein einflussreicher Akteur rechtsbürgerlicher Mobilisierung und polizeinahen Aktivismus.
Gleichzeitig nahm Ausländerfeindlichkeit zu, oft im Licht einer angeblichen «Revolutionsprävention». Antisemitische Stimmen vermengten soziale Ängste mit politischen Feindbildern – ein Muster, das man aus ganz Europa kannte. Die Behörden verschärften die Ausländerpolitik, meist mit dem Argument, man müsse «bolschewistische Elemente» fernhalten.
Auf der linken Seite herrschte tiefe Enttäuschung über den Abbruch des Streiks. Viele fühlten sich verraten, andere resignierten, wieder andere radikalisierten sich. Die Streikwelle selbst ebbte erst 1920 ab, als die kriegsbedingten Reallohnverluste endlich ausgeglichen waren. Im Sommer 1919 kam es in Basel und Zürich zu lokalen Generalstreiks; Militäreinsätze kosteten sechs Menschen das Leben.
💡 Wer die Biografien und Rollen der wichtigsten Akteure genauer kennenlernen möchte, findet dazu mehr in unserem Beitrag zu den zentralen Personen im Schweizer Generalstreik.
Der politische Ordnungswechsel: Die Schweiz wird repräsentativer
Eine der deutlichsten Folgen des Landesstreiks spürst du im Wahlrecht. Die Schweiz stand 1918 immer noch auf einem Majorzsystem, das die politischen Kräfte grob verzerrte. Städte wie Zürich, Basel oder Winterthur hatten starke sozialdemokratische Milieus, aber im Parlament fanden sie sich kaum wieder. Das Majorzsystem begünstigte den Freisinn so deutlich, dass grosse Bevölkerungsgruppen politisch unterrepräsentiert blieben.
Der Proporz war beschlossen, aber seine Umsetzung fragil
Im Oktober 1918 hatte die Stimmbevölkerung das Verhältniswahlrecht angenommen. Dieser Entscheid schuf die formelle Grundlage, löste aber noch keine unmittelbare Veränderung aus. Die Regierung hätte den Übergang problemlos verzögern oder verwässern können, denn die konkrete Ausgestaltung lag noch offen. In dieser Phase war unklar, ob der politische Wille stark genug war, das neue System tatsächlich rasch einzuführen. Gerade bürgerliche Kreise, die vom Majorz profitiert hatten, taten sich schwer mit der Vorstellung eines breiter zusammengesetzten Parlaments.
Die Wahlen von 1919
Mit den Nationalratswahlen von 1919 wurde der Proporz erstmals angewendet. Das Resultat zeigte, wie stark das alte System die politischen Kräfte verzerrt hatte. Der Freisinn blieb zwar bedeutend, verlor aber seine frühere Dominanz. Die Sozialdemokratische Partei gewann deutlich und etablierte sich erstmals als nationale Kraft. Auch kleinere politische Strömungen fanden ihren Platz. Die Zusammensetzung des Parlaments kam damit näher an die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse heran.
Der Landesstreik als Katalysator
Der Landesstreik war nicht die Ursache dieser Wahlrechtsreform, doch er beschleunigte sie. Die Ereignisse von 1918 machten unübersehbar, dass politische Exklusion langfristig zu Spannungen führt.
Der Druck, den der Streik erzeugte, reduzierte die Bereitschaft der Regierung, den bereits beschlossenen Proporz auf die lange Bank zu schieben. Die politische Elite wollte vermeiden, dass der Eindruck eines blockierten oder ungerechten Systems weiter an Fahrt gewann.
Die Geburt einer Sozialstaatsidee
Der Landesstreik fiel in eine Zeit, in der viele europäische Staaten erstmals über strukturelle Sozialpolitik nachdachten. Doch die Schweiz war kurz vor dem Streik noch weit davon entfernt, einen Sozialstaat zu haben, der diesen Namen verdient. Die sozialpolitischen Lücken waren riesig: keine Altersversicherung, kaum Absicherung bei Krankheit oder Invalidität, keine geregelten Arbeitszeiten.
Das Oltener Aktionskomitee forderte unter anderem eine Alters- und Invalidenversicherung. Damals galt das vielen als radikal, in manchen Zeitungen gar als „bolschewistische Idee“.
Der Druck des Streiks zwang die Regierung, das Thema erstmals ernst zu nehmen. Während einer ausserordentlichen Session am 12. November signalisierte Bundespräsident Felix Calonder überraschend offen, dass der Bund eine Altersversicherung grundsätzlich für nötig halte – eine Position, die Monate zuvor kaum denkbar gewesen wäre.
Kurz nach dem Streik begann tatsächlich eine Expertenkommission ihre Arbeit, die den Grundstein für das legte, was Jahrzehnte später zur AHV werden sollte. Die AHV trat zwar erst 1948 in Kraft, aber ohne die politische Erschütterung von 1918 wäre die Debatte wohl viel später gestartet. Der Streik war also kein sozialpolitischer Durchbruch, aber ein Weckruf.
Die Arbeitswelt verändert sich
Die Arbeitszeitverkürzung auf 48 Stunden war eine der sichtbarsten Forderungen des OAK und wurde bereits in den Jahren 1919 und 1920 in vielen Branchen umgesetzt – nicht durch ein grosses nationales Gesetz, sondern durch flankierende Verordnungen, Verträge und Branchenlösungen. Dieser Wandel ist historisch gut belegt.
Doch der tiefere Wandel lag im Prinzip: Jahrzehntelang waren Arbeitszeiten reine Sache der Unternehmer gewesen. Der Streik verschob die Denkweise: Arbeitskraft war nicht länger ein unendliches Mittel, sondern ein menschlicher Faktor. Damit begann die Entwicklung hin zu einem Arbeitsmarkt, der nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial reguliert wird – ein Punkt, den die ILO 1919 ebenfalls griff und der international Teil einer neuen sozialen Ordnung wurde.
Der Landesstreik zwang die Arbeitgeber, Gewerkschaften ernst zu nehmen. Die Tarifverhandlungen der 1920er-Jahre, die Entstehung von Gesamtarbeitsverträgen und die neue Rolle des SGB sind ohne dieses Ereignis schwer vorstellbar.
Ein schärferer Blick auf soziale Spannungen
Eine der am stärksten unterschätzten Wirkungen des Landesstreiks liegt in der Veränderung des politischen Selbstverständnisses. In der Vorkriegszeit hatte sich ein Teil der politischen Elite eingeredet, dass die Schweiz „von Natur aus“ sozial stabil sei. Der Landesstreik zerstörte diese Vorstellung radikal.
Die Ereignisse zeigten, dass soziale Ungleichheiten sehr wohl in der Lage sind, ein Land zu destabilisieren. Sie zeigten auch, dass Armut, Teuerung und politische Unterrepräsentation nicht einfach Alltagserfahrungen sind, sondern potenzielle Sprengsätze.
Die Angst vor Revolution, die 1918 im Bundeshaus und in der Presse herrschte, mag übertrieben gewesen sein, aber sie löste einen nachhaltigen Lernprozess aus: Es braucht soziale Sicherung, bevor die Gesellschaft im Ganzen Schaden nimmt.
Diese Erkenntnis prägte die Zwischenkriegszeit. Die Schweiz bewegte sich – trotz Krisen, trotz innenpolitischer Konflikte – in Richtung eines Modells, das weniger auf Konfrontation, mehr auf Einbindung setzt.
Die russische Revolution lag erst ein Jahr zurück. In Wien, Berlin, Budapest und München wackelten die politischen Fundamente, Arbeiter- und Soldatenräte entstanden im Wochentakt. Europäische Eliten fürchteten eine Art politischen Dominoeffekt. Auch in der Schweiz war dieser Nerv spürbar, obwohl die hiesige Arbeiterbewegung weit stärker reformerisch geprägt war. Diese übersteigerte Vorsicht erklärt zum Teil die überharten Reaktionen von Armee und Bundesrat.
Die politische Linke findet ihren dauerhaften Platz im System
Vor 1918 stand die SP oft am Rand des politischen Systems. Nach dem Landesstreik änderte sich das schrittweise. Die Wahlen von 1919 machten sie zur zweitstärksten Kraft, und langfristig wurde sie eine feste Stütze der Schweizer Politik. Die SP trat zwar erst 1943 in den Bundesrat ein, aber der Pfad dahin begann 1918.
Der Landesstreik hatte aber auch eine innere Konsequenz für die Linke: 1920/21 spaltete sich der linke Flügel der SP ab und gründete gemeinsam mit kleinen radikalen Gruppierungen die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS). Die Spaltung war Ausdruck der Enttäuschung über die vermeintliche «Zahmheit» der SP. Das Erbe des Streiks bestand also nicht nur in Reformen, sondern auch in neuen, konkurrierenden politischen Milieus.
Die umstrittene Bedeutung des Landesstreiks
Angesichts all dieser Entwicklungen bleibt der Generalstreik von 1918 ein Knotenpunkt der Schweizer Geschichte, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Für die einen war er vor allem das Symptom einer tiefen sozialen Krise, verursacht durch Teuerung, politische Blockaden und die lange unterschätzten Spannungen zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum; für andere war er der eigentliche Startschuss für Demokratisierung, Sozialstaat und Sozialpartnerschaft.
Wieder andere historische Quellen betonen, dass viele Reformen auch ohne Streik gekommen wären –einfach langsamer und weniger dramatisch. Wie es damals konkret zur Eskalation und zum Ausbruch im November 1918 kam, kannst du in unserem Beitrag "Wie es 1918 zum Ausbruch des Landesstreiks kam" im Detail nachverfolgen.
Der Landesstreik ist kein sauber abgeschlossener Erfolg oder Misserfolg, sondern ein offenes Kapitel, das je nach Blickwinkel anders wirkt. Vielleicht liegt sein wahres Gewicht gerade darin, dass er uns zwingt, die Ursachen sozialer Konflikte ernst zu nehmen und zu akzeptieren, dass politische Ordnung immer wieder neu ausgehandelt werden muss.








