Der Schweizer Landesstreik im November 1918 war einer der Momente, in denen ein ganzes Land für einen Augenblick still stand. Drei Tage lang legten Hunderttausende die Arbeit nieder: In Fabriken, auf den Schienen, in Werkstätten, auf Poststellen und in grossen Teilen der Städte.
Der Generalstreik war die grösste soziale Auseinandersetzung der modernen Schweiz, entstanden aus vier Jahren Kriegswirtschaft, Teuerung, mieser Versorgungslage und einem politischen System, das immer mehr Menschen als abgehängt empfanden.
Hinter diesen drei Tagen Stillstand im November steckte ein Geflecht aus Persönlichkeiten und Gruppen. Damit du verstehst, wie der Landesstreik überhaupt möglich wurde, lohnt sich ein Blick auf jene Figuren, die im November 1918 das Heft in der Hand hatten!
Wer spielte 1918 welche Rolle?
- Oltener Aktionskomitee (OAK): Politische Leitung des Streiks, Forderungskatalog.
- Arbeiterunionen & Gewerkschaften: Mobilisierung, lokale Organisation.
- Bundesrat: Politische Entscheidungsinstanz, stark vom Notrecht geprägt.
- Armee: Ordnungsmacht, eskalierende Präsenz in Zürich und weiteren Städten.
- SP Schweiz: Zwischen Parlament und Strasse, moderierend, aber unter Druck
- Lokale Streikkomitees: Praktische Durchführung des Streiks vor Ort.
Kontext: Wie kam es überhaupt zum Landesstreik?
Langfristige Grundlagen
Seit dem späten 19. Jahrhundert wuchs in der Schweiz eine kräftige Arbeiterbewegung. Streiks nahmen stark zu (z. B. in den 1890er- und frühen 1900er-Jahren). Industriezentren, Arbeiterquartiere und Gewerkschaften wurden stärker organisiert.
Gleichzeitig blieben strukturelle Ungleichheiten bestehen: Arbeiterinnen und Arbeiter hatten wenig politische Teilhabe, die Wirtschaft boomte in bestimmten Sektoren, während viele Haushalte unter Lohn- und Preisdruck litten.
Mittel- und kurzfristige Auslöser
Der Erste Weltkrieg wirkte wie ein Brandbeschleuniger: Die Schweiz war zwar militärisch neutral, war aber wirtschaftlich stark betroffen. Versorgungslagen verschlechterten sich, Preise stiegen, Reallöhne sanken. Im Herbst 1918 verstärkte sich das Gefühl von Krise: Streik- und Protestwellen nahm zu, die Arbeiterbewegung zeigte sich aufnahmefähiger für größere Aktionen.
Zugleich wuchs bei bürgerlichen Kreisen die Angst vor Revolution: Ergebnisse der russischen und deutschen Revolution näherten sich dem Bewusstsein auch in der Schweiz.
Der Auslöser: Militärische Präsenz und Eskalationsdynamik
Im November 1918 verlegte der Bundesrat dann unter Einfluss des Militärs Truppen nach Zürich. Diese Massnahme wurde von Arbeitervereinen als Drohung wahrgenommen. So kam es schließlich zu den drei Tagen Generalstreik. Wer die Vorgeschichte dieser Eskalation im Detail nachverfolgen will, findet sie im Beitrag Hintergrund und Ursachen des Generalstreiks 1918.
Das Oltener Aktionskomitee: Der strategische Motor
Das Oltener Aktionskomitee (OAK) war das eigentliche Nervenzentrum des Landesstreiks im November 1918. Es entstand 1918 als Koordinationsstelle der gesamtschweizerischen Arbeiterbewegung und vereinte Gewerkschaften, Sozialdemokratie und regionale Arbeitervereine.
Gegründet wurde es im Umfeld eines ausserordentlichen Gewerkschaftskongresses, weil die Arbeiterbewegung merkte, dass klassische Streiks, Petitionen und Eingaben an den Bundesrat zu wenig Wirkung entfalten.
Das OAK war ein hybrides Gebilde aus:
- Spitzenfunktionären der Gewerkschaften (Metall, Bahn, Textil)
- führenden Sozialdemokraten
- Vertretern regionaler Arbeiterkartelle
- erfahrenen Vertrauensleuten, die die Stimmung in den Betrieben kannten
Entscheide wurden kollektiv gefällt, aber informell dominierten einige starke Köpfe:
| Name | Funktion | Bedeutung im Landesstreik |
|---|---|---|
| Robert Grimm | Vorsitz OAK, SP-Nationalrat | Politischer Kopf, Formulierer der Forderungen |
| Ernst Nobs | OAK-Mitglied, Gewerkschaftsführer | Organisatorische Koordination, Verbindung zu Zürich |
| Friedrich Schneider | SGB | Gewerkschaftsstrategie, Arbeitskampferfahrung |
| Karl Dürr | Gewerkschaftsführer | Mobilisierung, Kommunikation mit Basiskomitees |
Die in Olten formulierten Forderungen – von der 48-Stunden-Woche bis zur AHV – bildeten den politischen Kern des Streiks. Eine kompakte Übersicht, was genau verlangt wurde und was später umgesetzt wurde, findest du in unserem Beitrag zu den zentralen Forderungen im Landesstreik.
Robert Grimm
Grimm, Buchdrucker, Nationalrat und eine der bekanntesten Stimmen der Sozialdemokratie, wurde zur Symbolfigur des Oltener Aktionskomitees. Seine politische Laufbahn war geprägt vom Einsatz für soziale Reformen, und schon 1915/16 hatte er die internationale Linke an der Zimmerwalder Konferenz angeführt.
Nach dem Landesstreik im November 1918 wurde er im Landesstreikprozess zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die juristische Härte zeigt auch, wie stark er auf bürgerlicher Seite als Bedrohung empfunden wurde.
Ernst Nobs
Nobs, später der erste sozialdemokratische Bundesrat, war im OAK eine pragmatische Figur. Er vernetzte regionale Arbeiterkomitees, organisierte Kommunikation und versuchte, Eskalation zu vermeiden.
Friedrich Schneider und weitere Gewerkschafter
Schneider (Metallarbeiterverband) sowie Gewerkschafter aus Textil, Bahn und Maschinenindustrie bildeten die operative Ebene des Oltener Aktionskomitees. Sie hatten direkte Kontakte in die Betriebe, kannten Lohnniveaus, Preisentwicklungen und die tatsächliche Belastung der Arbeiter.
Die Arbeiterunion Zürich: Das lokale Kraftzentrum
Zürich war die Stadt, in der sich die sozialen Spannungen im November 1918 am sichtbarsten entluden. Die Arbeiterunion Zürich war ein Dachverband der lokalen Arbeitervereine und spielte eine weit grössere Rolle als die meisten anderen Städte.
Zürich war 1918 das Nervenzentrum des Landesstreiks:
- grösste Industriestadt
- dichte Arbeiterquartiere (Aussersihl, Hard, Industriequartier)
- hohe Belastung durch Teuerung
- traditionell starke sozialdemokratische Kultur
Zürich hatte eine lange Tradition von Lohnkämpfen, politischen Kundgebungen und starker gewerkschaftlicher Organisation. Als am 11. November 1918 plötzlich Infanterie- und Maschinengewehrabteilungen in der Stadt auftauchten, löste das den letzten Funken aus.

Die Arbeiterunion Zürich war ein Dachverband mit enormer Durchschlagskraft. Sie organisierte:
- Streikversammlungen
- Sicherheitsdienste für Demonstrationen
- Informationsweitergabe zwischen Betrieben
- lokale Streikleitungen für einzelne Quartiere
Die Arbeiterunion war weniger zentralisiert als das OAK und eher als ein Netzwerk aus Vertrauensleuten, Gewerkschaftern und lokalen SP-Funktionären strukturiert. Trotzdem schaffte sie es, binnen Stunden die Stadt lahmzulegen. Wie sich aus diesen lokalen Spannungen die landesweite Eskalation ergab, wird im Beitrag November 1918: Der Ausbruch des Generalstreiks im Detail nachgezeichnet.
Der Bundesrat: Ein gespaltenes Gremium
Der Bundesrat von 1918 war in sich gespalten. Die Regierung reagierte auf den Landesstreik im November nicht wie ein geschlossenes Kabinett, sondern wie ein Bündel einzelner Stimmen, die unterschiedliche Bedrohungsszenarien sahen.
Felix Calonder
Calonder war 1918 Bundespräsident und hielt die zentrale Rede während der ausserordentlichen Session. Interessant ist seine Doppelrolle:
- Einerseits sprach er vom „bolschewistischen Terror“, den es zu unterbinden gelte.
- Gleichzeitig signalisierte er Bereitschaft, über soziale Reformen nachzudenken, darunter eine Altersversicherung.
Diese Mischung aus Härte und Reformbereitschaft zeigt, wie sehr der Bundesrat innerlich zerrissen war. Calonder stand zwischen konservativen Hardlinern und jenen, die das soziale Pulverfass durchaus erkannten.
Giuseppe Motta und Edmund Schulthess
- Giuseppe Motta (später langjähriger Aussenminister) war einer der härtesten Gegner der Arbeiterbewegung. Er drängte auf ein konsequentes Durchgreifen.
- Edmund Schulthess, Wirtschaftsminister, kannte die Probleme der Teuerung und Versorgungsschwierigkeiten, wollte aber Reformen nur schrittweise und möglichst ohne Druck von der Strasse.
Diese inneren Spannungen im Bundesrat machten Verhandlungen schwierig.
Die Armee und Ulrich Wille
Auch die Schweizer Armee war im Landesstreik politischer Akteur. Und ihr Oberbefehlshaber Ulrich Wille, Sohn eines preussischen Offiziers, brachte eine militärische Kultur ein, die wenig kompatibel war mit sozialen Protesten.
Wille sah in der Arbeiterbewegung die Gefahr eines Umsturzes. Seine Memoiren, Befehle und Protokolle zeigen, wie sehr er die Ereignisse in Deutschland und Russland im Hinterkopf hatte. In seinen Augen war die Truppenverlegung nach Zürich und Bern eine präventive Massnahme.
In der Wahrnehmung der Arbeiterbewegung war sie ein gezieltes Einschüchterungsinstrument. Der tödliche Ausgang in Grenchen – drei erschossene Arbeiter – gehört zu den dunkelsten Kapiteln dieses Einsatzes. Für die tödlichen Schüsse wurde im Nachhinein niemand belangt.
Die Sozialdemokratische Partei
Die SP befand sich 1918 in einer heiklen Lage. Einerseits wollte sie parlamentarisch stärker werden (deshalb der Fokus auf Proporzwahlrecht), andererseits drängten Gewerkschaften und Arbeitervereine auf direkten Druck.
Die SP stand im November 1918 also zwischen zwei Polen:
- der parlamentarischen Hoffnung, durch das neue Verhältniswahlrecht endlich stärker im Nationalrat vertreten zu sein,
- und der massiven sozialen Not ihrer Basis, die nach vier Kriegsjahren nicht mehr bereit war, bis nach der nächsten Session zu warten.
Die Partei unterstützte das OAK grundsätzlich, war aber nicht geschlossen revolutionär. Viele wollten keinen offenen Bruch mit dem Staat, sondern eine politische Erneuerung durch Wahlen und Reformen.
Lokale SP-Sektionen – insbesondere in Zürich, Winterthur, Basel – waren deutlich radikaler eingestellt als die nationale Parteiführung. Sie sahen den Streik als Chance, reale Missstände endlich sichtbar zu machen.
Die lokalen Streikkomitees: Das Rückgrat des Ausstands
Über 100 Städte und Gemeinden hatten während des Streiks eigene Komitees, die Strassenkontrolle organisierten, Lebensmittelverteilung überwachten, Arbeitsniederlegung koordinierten, Sicherheitsdienste stellten und zwischen OAK und Basis vermittelten.
Ohne diese Komitees wäre der Generalstreik nie ein Landesstreik geworden.
💡 Welche langfristigen Spuren dieses Zusammenspiel aus Basisorganisation und nationalem Konflikt für das politische System hinterlassen hat, wird in unserem Artikel zu den langfristigen Folgen des Streiks für Politik und Gesellschaft genauer beleuchtet.
Warum gerade diese Akteure die Schweiz veränderten
Der Konflikt entstand im November 1918 aus einem fein verästelten Zusammenspiel von Gruppen, Persönlichkeiten und historischen Umständen, die sich gegenseitig verstärkten. Jede dieser Kräfte hätte allein kaum eine landesweite Erschütterung ausgelöst.
Die Arbeiterbewegung war 1918 so gut organisiert wie nie zuvor. Gewerkschaften hatten über Jahre Strukturen geschaffen, die nicht nur Löhne verhandelten, sondern auch politische Bildung, Quartierversammlungen und soziale Solidarität förderten. In vielen Städten existierten eingespielte Vertrauensnetzwerke in Fabriken, die dafür sorgten, dass Informationen schnell weitergegeben wurden und ein Streikaufruf nicht verpuffte. In Zürich, Basel und Winterthur war die Arbeiterbewegung praktisch eine zweite politische Öffentlichkeit.
Der Staat dagegen war kriegsmüde und angegriffen. Vier Jahre Notrecht hatten den Bundesrat administrativ gestärkt, inhaltlich aber geschwächt. Die Regierung hatte sich daran gewöhnt, über Verordnungen zu regieren, ohne viel erklären zu müssen, und sie verstand soziale Forderungen eher als Problem der öffentlichen Ordnung denn als politisches Thema.
Die Armee wiederum war ein eigenständiger Machtfaktor mit einer Offizierskultur, die stark von bürgerlichen Milieus geprägt war. Für viele Offiziere wirkten Arbeiterproteste automatisch wie Angriffe auf die staatliche Ordnung. General Wille und seine Umgebung lasen die Ereignisse nicht sozialpolitisch, sondern sicherheitspolitisch. Das führte zu Entscheidungen – etwa die Truppenverlegung nach Zürich –, die die Lage nicht beruhigten, sondern verschärften. Die Armee wurde damit ungewollt zum Katalysator.
Hinzu kam eine politische Elite, die in den entscheidenden Wochen das Ausmass der sozialen Not nicht mehr richtig einschätzen konnte. Der Glaube, die Arbeiterbewegung sei hauptsächlich von ausländischen Revolutionen inspiriert, überschattete die Tatsache, dass die schweizerischen Probleme hausgemacht waren: massive Teuerung, Reallohnverluste, fehlende Sozialversicherungen, ein Wahlrecht, das viele Stimmen unsichtbar machte.
All diese Kräfte bildeten das Geflecht, das den Landesstreik überhaupt erst möglich machte. Der Streik kann daher durchaus als ein Spiegel der jungen Schweiz im Übergang von einer konservativen Ordnungsgesellschaft zu einem modernen Sozialstaat gelesen werden.








